Kriege, Hungersnot und Seuchen, Rechtlosigkeit, geistige und sittliche Verwahrlosung – am Ende des 16. Jahrhunderts droht in Frankreich ein Meer von Elend vor allem die Landbevölkerung zu verschlingen. Die Bauernfamilie in Pouy im kargen Vorland der Pyrenäen, in der Vinzenz am 24. April 1581 geboren worden war, sieht nur eine Möglichkeit, aus der Armut heraus-zu kommen: der begabte Junge soll Priester werden und sie durch eine möglichst reiche Pfründe unterstützen. Es kann nicht schnell genug gehen. Nach halbfertigen Studien drängt sich der Neunzehnjährige zur Priesterweihe. Die ersten zehn Jahre danach sind angefüllt von abenteuerlichem Jagen nach Einkommen und Karriere. Sein Weg führt ihn schließlich nach Paris. Dort holt ihn die Sendung Gottes ein.
Der Weg seiner Bekehrung ist markiert durch die Begegnung mit dem Elend der Kranken im Hotel Dieu, durch die Lebensbeichte eines sterbenden Bauern, durch die Begegnung mit einem der großen geistlichen Erneuerer Frankreichs: Kardinal Bérulle.
Von einer ihn jahrelang quälenden Glaubensnot wird er plötzlich befreit, als er das Gelübde ablegt, sein ganzes Leben dem Dienst der Armen zu weihen. Jetzt erst ist er ganz auf der Spur Gottes: das Erbarmen Gottes hat begonnen, sich einen der größten Mitarbeiter zu erschaffen.
Zusammen mit anderen Geistlichen, die er ab 1625 zur „Kongregation der Mission“ (heute „Lazaristen“ oder „Vinzentiner“ genannt) zusammenführt, hält er Volksmissionen ab. Kraft seines genialen Charismas, Menschen zum Helfen zu bewegen und ihren Einsatz dauerhaft zu organisieren, entstehen vielerorts Caritasvereine.
1633 gründet er mit Louise de Marillac die Gemeinschaft der Barmherzigen Schwestern. Zusammen mit seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern fängt Vinzenz jeden Notschrei auf: die erbarmende Liebe gilt den Findelkindern, den Galeerensträflingen, den körperlich und seelisch Kranken, den Flüchtlingen aus den Bürgerkriegsgebieten, den Bettlern und vielen anderen.
Als er 79-jährig am 27. September 1660 stirbt, hat das Erbarmen Gottes selbst durch ihn Unerhörtes gewirkt. Und die Kraft dieses Geistes wirkt bis heute in den geistlichen Gemeinschaften und Laienbewegungen, die überzeugt sind: „Die Liebe ist unendlich erfinderisch.“
Geistiges Vermächtnis
Die Menschen in Gott anschauen
Von Gott herkommend und in der Nachahmung Christi von ihm gesandt, führt für Vinzenz der Weg zum Menschen. Dabei ist sein Menschenbild zutiefst biblisch geprägt. Jeder Mensch ist demnach von Gott ins Leben gerufen und geliebt und besitzt aus dieser „Gotteskindschaft“ heraus eine unverlierbare Würde. Diese leuchtet auf, wenn der andere aus dem Glauben heraus betrachtet wird und ist völlig unabhängig von allen Äußerlichkeiten, wie Herkunft, Geschlecht und Religion. Christus, der Menschgewordene selbst, wird im andern sichtbar. Sein Einsatz für die Armen und sein Blick für ihre Würde führt Vinzenz dahin, die geltenden Wertmassstäbe umzukehren:
„Die Armen sind unsere Herren, sie sind unsere Könige. Man muss ihnen gehorchen. Es ist keine Übertreibung, sie so zu bezeichnen; denn in den Armen ist unser Herr gegenwärtig“.
Otto Schnelle: Vinzenz von Paul – aktuell, S.47